Ein Buch für Weihnachten – A book for Christmas – Un libro per Natale

un libro per natale

Dieses Buch ist sehr empfehlenswert. Es ist ein sehr persönlicher, empathischer Blick auf die Flüchtlingskrise. Am liebsten würde ich es all denen unter den Weihnachtsbaum legen, die gegen Flüchtlinge hetzen oder Abschiebungen in Länder wie Afghanistan befürworten.

I’d really like to recommend you this book. It is a very personal, empathic view on what we call the refugee crisis. If I could, I would put this beneath the Cristmas tree of all those who spread hatred towards refugees or are in favor of deportations to countries such as Afghanistan.

Oggi vorrei raccomandarvi questo libro. È un punto di vista molto personale ed empatico su ciò che chiamiamo la crisi dei rifugiati. Se potessi, mi piacerebbe metterlo sotto l’albero di Natale di ciascuno che incita odio contro i rifugiati o è in favore a deportazioni in paesi come è Afghanistan.

 

Titolo originale: Nel mare ci sono i coccodrilli. Storia vera di Enaiatollah Akbari

English title: In The Sea There Are Crocodiles

Dezember 2018

Geschichte ist menschengemacht. Und das macht sie faszinierend.

„Auch Weltgeschichte ist letztlich die Geschichte Einzelner. Es sind Menschen, die uns interessieren, nicht Ereignisse. Denn mit Menschen können wir mitfühlen und uns identifizieren, sie sind uns abschreckendes Beispiel oder Vorbild.“
Marius Leutenegger, Lesen Nr. 2/2018

Ein Problem und ein vermeintlicher Lösungsansatz

Im Internet kursiert unter der Abkürzung ZAFI der Vorschlag für eine Volksinitiative, welch verspricht, Probleme wie die überproportionalen Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche von Menschen über 50 damit zu lösen, dass Inländern auf dem Arbeitsmarkt bevorzugt eine Stelle gegeben wird.

Tatsächlich gibt es verschiedene Bevölkerungsschichten, welche auf dem Arbeitsmarkt systematisch diskriminiert werden. Dazu gehören neben den Menschen über 50 beispielsweise auch Behinderte, Frauen oder Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht 100% arbeiten können. Vorzugeben, dieses Problem dadurch zu lösen, in dem man Inländer und Ausländer gegeneinander ausspielt, darf aber auch nicht die Lösung sein. Zudem wage ich es zu bezweifeln, dass es ausgerechnet das Einstellen von billigeren Arbeitskräften aus dem Ausland ist, welches diesen Gruppen von Menschen den (Wieder-)Einstieg in den Arbeitsmarkt erschwert, wie es die Initianten behaupten. Mir sind keine Studien oder Statistiken bekannt, die ebendies behauptet. Hier werden zwei negative Phänomene des Arbeitsmarktes willkürlich miteinander verknüpft. In der Realität ist die Sache weitaus komplexer.

Es ist durchaus wünschenswert, dass sich die Politik mit diesen Formen der Diskrimination auf dem Arbeitsmarkt auseinandersetzt. Doch diese lässt sich kaum dadurch aufheben, in dem man eine benachteiligte Gruppe gegenüber einer anderen bevorzugt. Denn man darf nicht vergessen, dass ebendiese billigen ausländischen Arbeitskräfte oft ebenso ausgenützt und diskriminiert werden. Sie machen Arbeiten, die die meisten Schweizerinnen und Schweizer nicht machen würden und werden dafür unterbezahlt. Sie sind ebenso Opfer in diesem System wie Schweizer, die Absage um Absage erhalten, nur weil sie nicht in ein Idealbild passen. Und dennoch sind diese Absagen nicht zwingend die Folge der Einstellung von Ausländern. Oft sind es jüngere Einheimische, denen der Vorzug gegeben wird.

Um das Problem bei der Wurzel zu packen, sind andere Lösungsansätze notwendig. Zum einen braucht es Regelungen, die es schwieriger machen, aus Lohndumping Profit zu schlagen. Vor allem aber ist es notwendig, Anreize zu schaffen, damit nicht ganze Bevölkerungsschichten systematisch vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden. Die Zeit ist reif für einen Paradigmenwechsel bei der Jobvergabe. Es sollte endlich nach Kriterien wie Kenntnissen und Fertigkeiten, Erfahrungen und Potential entschieden werden. Kriterien wie Geschlecht, Alter, Nationalität sollten dabei keine Rolle spielen. Menschen, die spezifische Bedürfnisse brauchen, um ihr Potential entfalten zu können, sollten diesen Raum erhalten, statt an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden. Es ist an der Zeit, dass Menschen, die Arbeit suchen oder einen Job haben, nicht mehr zu Konkurrenten und Rivalen gemacht werden, die sich wie Raubtiere in der Wildnis um ihr Futter streiten. Diese Form von Sozialdarwinismus am Arbeitsplatz hat ausgedient und sollte durch eine Form von Solidargemeinschaft ersetzt werden, in dem ein jeder und eine jede nach seinen Mitteln und Fähigkeiten die Chance bekommt, diesen Planeten zu einem besseren zu machen und ein erfülltes und würdiges Leben zu leben.

Eintauchen in eine unbekannte Welt – eine Annäherung an Fritz Brun

„Mein liebster alter Freund, […] erinnerst du dich des Tages, als wir uns in Schüpfheim trafen, nach Escholzmatt wanderten, [ich] dir den Bauernhof zeigte, wo ich als kleiner Bub meine Schulferien verbrachte.“

Diese Worte richtete Fritz Brun kurz vor seinem Tod an seinen Studiengenossen Volkmar Andrae, der für ihn zeitlebens eine wichtige Bezugsperson war. Es sind Zeilen eines alten Mannes, der sich nostalgisch an eine unbeschwerte Zeit der Kindheit und Jugend erinnert, die ihn inspiriert und geprägt hat.

Fritz Brun Klavier

Fritz Brun, Foto: http://www.fritzbrun.ch

Dieser Bezug zum Entlebuch bildete schliesslich auch den Grundstein der Idee des Entlebucher Musikarchives, eine Veranstaltung zu organisieren, um diesen zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Komponisten einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen. Sie nahmen uns mit auf eine musikalische (Zeit-)Reise, die Einblick in eine „unbekannte Welt“ gab, wie einer der Vortragenden betonte. Und die Erwartungen wurden nicht enttäuscht. Unbekannt ist die Welt des Fritz Brun gleich aus zwei Gründen. Zum einen ist dieser Komponist heute selbst in seiner Heimat und seinem Wirkungsort kaum bekannt, mit der Ausnahme von Musikwissenschaftlern und –interessierten und natürlich denjenigen, die ihm persönlich begegnet sind und ihm nahegestanden sind. Zum anderen ist Brun eine Person von unglaublich ausgeprägten musikalischem Talent, welches sich in seinen Kompositionen zeigt, die bereits Laien beeindrucken, deren Tiefgründigstes und die bis in jedes Detail vordringende Raffinesse sich aber erst denen eröffnet, die ein ausgeprägtes Musikverständnis haben.

Fritz Brun Dirigent.PNG

Brun prägte als Dirigent über Jahrzehnte das Berner Musikleben, Foto: http://www.fritzbrun.ch

Doch wer genau war Fritz Brun. Der 1878 in Luzern geborene Brun war ein bedeutender Schweizer Symphoniker. Bereits in seiner Kindheit und Jugend kam er in engen Kontakt mit Musik. Er besuchte Klavierunterricht und spielte in einer Luzerner Gefängniskirche Harmonium, um zum Lebensunterhalt der Familie etwas beizutragen, nachdem sein Vater bereits früh gestorben war. Dazu verbesserte er seine Kenntnisse der Musiktheorie stetig und kam mit führenden Persönlichkeiten des Luzerner Musiklebens in Kontakt, welche ihm schliesslich ein Stipendium vermittelten, damit er in Köln am Konservatorium sein Studium fortsetzen konnte. Hier komponierte er sein erstes Streichquartett.

Nach dem Studium zog es ihn nach Berlin, wo er am Hof Prinz Georgs von Preussen tätig wurde. Dem Preussischen Prinzen lag viel an Kultur. Er hatte eine Bibliothek und pflegte Kontakt mit Literaten. In dieser Berliner Zeit vollendete Brun seine erste Symphonie, welche auch zur Aufführung kam, wobei sie Brun selber dirigierte. Die Rezeption des Werkes war durchaus positiv. Nach dem Tod des Prinzen zog Fritz Brun noch einige Zeit durch Europa, wo er zuerst in London und dann in Dortmund als Musiklehrer tätig war, bevor er schliesslich in die Schweiz zurückkehrte.

Bern wurde zu seinem neuen Lebensmittelpunkt. Nachdem er zunächst wieder als Klavierlehrer tätig war, wurde er schliesslich 1909 zum Musikdirektor der Bernischen Musikgesellschaft gewählt und mit der Leitung der Symphoniekonzerte des Berner Orchesters betraut. In den 32 Jahren als Dirigent in Bern entstanden seine Symphonien 2-8, welche ebenfalls erfolgreich aufgeführt wurden.

Casa Indipendenza

Casa Indipendenza in Morcote, Foto: http://www.fritzbrun.ch

Von seinen Zeitgenossen wurde Fritz Brun als eine ernste, reservierte Persönlichkeit beschrieben. Trotz seiner wenig zugänglichen Art hat er sich im Verlauf seines Lebens einen wertvollen Freundeskreis geschaffen, gegenüber der dem er sich öffnen konnte. Gegenüber diesen Menschen, zu welchen er durch die gemeinsame Leidenschaft für Musik und Kultur Zugang gefunden hatte, baute er eine enge Bindung auf. Zu diesen ihm nahestehenden Personen gehören neben Vertretern des Musiklebens, deren Lebensweg er auf den verschiedenen Stationen seiner musikalischen Tätigkeit gekreuzt hatte, beispielsweise auch seine Frau Hanna Rosenmund, mit der er drei Kinder hatte, oder der Schriftsteller Hermann Hesse. Seine Freunde nahm er mit auf Wanderungen durch die Schweizer Natur oder lud sie in sein Haus im tessinerischen Morcote ein, wohin er sich ab 1941 zurückzog. Gästebucheinträge und Fotos zeugen von einem angeregten kulturellen Austausch und geben Einblick in ein geselliges Leben im Einklang mit der Natur. Die paradiesische Atmosphäre der Casa Indipendenza erweist sich auch als Inspirationsquelle für drei weitere Symphonien, sowie Konzerte für Klavier beziehungsweise Violoncello. 1959 schliesslich starb Fritz Brun und hinterliess ein umfangreiches musikalisches Erbe.

Fritz Brun Musikzimmer

Das Musikzimmer in Morcote – ein Ort kreativen Schaffens, Foto: http://www.fritzbrun.ch

Inspiriert durch das Musikverständnis seines Kölner Lehrers Franz Wüllner versuchte Brun eine Brücke zwischen der traditionellen Wahrnehmung der Musik, sowie derjenigen der Moderne zu schlagen. So weisen seine Werke Einflüsse beider Strömungen auf, die er gelungen miteinander verband. Bei seinen Kompositionen bewahrte er eine Unabhängigkeit von kompositorischen Schulen und Zeitgeist und ging gewissermassen seinen eigenen musikalischen Weg. Bruns Werke sind anspruchsvoll für Publikum und Musiker ebenso. Auf den ersten Blick mögen sie nicht einfach zugänglich sein, wie auch Brun selbst. Menschen mit musikalischem Gehör, die sich Bruns Werken öffnen und so auch die innerste Bedeutung seiner Kompositionen wahrnehmen können, öffnet er ein Tor zu einer magischen Welt. Die emotional geladenen Werke Bruns sind inspiriert von der Natur, deren Nähe der Komponist suchte und deren Atmosphäre er verinnerlichte.  Der leidenschaftliche Bergsteiger verwandelte Berge in Musik. Oder mit anderen Worten: er malte mit Tönen. Die Lyrik, das Bild des Menschen in der Natur faszinierte Fritz Brun. So finden sich in seinen Vokalwerken zahlreiche vertonte Texte von Dichtern, von Goethe bis zu Bruns Zeitgenossen, aber auch Volksdichtungen. Nebst dieser lyrischen Prägung seiner Werke finden sich auch nationale, volksmusikalische Einflüsse in seinen Kompositionen. Daneben arbeitete Brun ebenfalls beim Erstellen von Sammlungen von Berner Volksliedern mit.

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Fritz Brun, der Bergsteiger, der Berge in Musik verwandelte, Foto: http://www.fritzbrun.ch

Gerade aufgrund dieses Engagements Fritz Bruns, seiner Beziehung zur Natur und Kultur der Schweiz, ist es umso bedauernswerter, dass bereits etwas mehr als ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod kaum mehr jemand diesen Komponisten kennt. Anders als beispielsweise Dvořák oder Smetana, deren Kompositionen mit Bezug zu Natur und Tradition ihrer Heimat weit über die Grenzen des heutigen Tschechiens bekannt sind, verschwanden Fritz Bruns Kompositionen schon relativ bald in der Versenkung, Auch ich kannte Fritz Brun vor der Veranstaltung im Juni nicht. Seither frage ich mich, warum wir in der Schule zwar über einen Brahms, einen Bruckner oder einen Dvořák gesprochen haben, nie aber über hiesige Komponisten. So wurde ein bisschen der Anschein erweckt, so etwas gäbe es hier bei uns gar nicht. Umso wichtiger wäre es doch, dass auch dieses musikalische Schaffen seinen Platz im Unterricht erhält. Schliesslich sind Werke wie diejenigen Fritz Bruns noch für die Ewigkeit geschrieben und sollten auch heutigen und künftigen Generationen nicht vorenthalten werden. Umso bedeutender sind Veranstaltungen, wie diejenige in Escholzmatt, die das Werk Fritz Bruns der Bevölkerung näherbringen.

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Adriano, Foto: www.sergeschmid.ch

Das Entlebucher Musikarchiv hat es sich zur Aufgabe gemacht, die ausgeprägte Musikkultur des Tals in ihrer Vielfalt zu dokumentieren und zugänglich zu machen. Es steht dabei in der Tradition verschiedenster Projekte zur Belebung der Musikkultur im Entlebuch in den vergangenen Jahrzehnten. Dank dem intensiven Engagement von Hermann Bieri und Serge Schmid ist es schliesslich gelungen, diese Veranstaltung auf die Beine zu stellen und auch den Musikschaffenden Adriano für das Projekt zu gewinnen, der in den vergangenen Jahren Bruns Werke mit den Orchestern in Moskau und Bratislava eingespielt hat.

In den verschiedenen von ihm produzierten Videodokumentationen hat er Einblick in das Leben und Schaffen Fritz Bruns gegeben, aber auch sein bedeutender Beitrag zur Erhaltung von Bruns musikalischem Erbe hat sich den Anwesenden erschlossen. Sein Verdienst zeigt sich nicht nur im Einspielen von Bruns Werken und deren Erhaltung als Tondokument, sondern auch darin diese Musik etablierten Musikern in den Orchestern Europas nahezubringen. Der Cellist Claudius Herrmann beispielsweise merkte beim Einspielen des Cellokonzerts schnell, dass Brun selbst kein Cellist war und dass das Werk daher nicht leicht zu spielen ist. Dennoch stellte die Annäherung an das Schaffen Fritz Bruns für ihn eine „grosse Entdeckung“ dar.

Gegen Ende der Veranstaltung kam schliesslich noch die mittlerweile 91 Jahre alte Schwiegertochter Suzanne Brun zu Wort, welche Fritz Brun persönlich gekannt hatte und ihm bis zu seinem Tod beigestanden hatte. Sie bedankte sich bei Adriano auf rührende Weise für sein Engagement. Die Werke ihres Schwiegervaters wiederzuhören sei für sie „ein Gruss aus dem Himmel.“

Möge dieser Text ein winziger Beitrag dazu sein, dass diese Himmelsstimme auch in Zukunft hörbar sein wird und vielleicht noch mehr Menschen mitnimmt – auf eine Reise in eine unbekannte Welt.

Fritz Brun mit Katze.PNG

 

 

http://www.fritzbrun.ch – Website zu Fritz Brun, von der alle hier verwendeten Fotos Bruns stammen. Interessierte finden hier auch eine ausführliche Biografie, sowie eine Bibliografie.

 

http://www.adrianomusic.com/

http://www.adrianomusic.com/resources/The-Fritz-Brun-Recording-Project.pdf – Dokumentation des Aufnahmeprojekts auf Englisch

http://www.adrianomusic.com/resources/CD-Texte-Deutsch.pdf – Einführung in Bruns Werk

 

http://www.sergeschmid.ch

http://www.sergeschmid.ch/cd-aufnahmen-fritz-brun.html – Spezifisch zu Fritz Brun

 

http://www.entlebucher-musikarchiv.ch/

Eine Ungerechtigkeit, die sprachlos macht

Wer sich mit der Menschenrechtsthematik auseinandersetzt, realisiert schnell, wie viele Menschen auch im 21. Jahrhundert noch Willkür ausgesetzt sind. Von Saudi Arabien über Eritrea bis nach Russland, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, erreichen uns immer und immer wieder Nachrichten von Menschenrechtsverletzungen. Es sind Schicksale, die nur diejenigen kaltlassen können, die ein Herz aus Stein haben. Auch diesmal ist es eine solche Geschichte, die mich dazu bewegt, diese Zeilen hier zu schreiben.

Es ist eine Geschichte, die das Potential hätte, aus einem Märchenbuch zu stammen. Es war einmal eine Familie, die in ihrem Heimatland Terror und Verfolgung erlebte. Deswegen schliesslich entschloss sie sich zu fliehen, um anderswo ein neues Leben zu beginnen, ein Leben ohne Angst und ohne Gewalt. Nach jahrelanger Odyssee schliesslich hat sie Zuflucht in der Schweiz gefunden. Das Ankommen im Alltag in diesem neuen Zuhause war sicherlich nicht einfach, und dennoch wurde die Familie Teil der Gemeinschaft. Die Kinder konnten zur Schule gehen und fanden gute Freunde. Doch eine wesentliche Sache unterscheidet diese Geschichte von einem Märchen. Es fehlt nämlich ein Abschluss, wie er bei Märchen übrig ist. Es gibt kein „und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage“ und auch kein „und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“. Dies liegt daran, dass diese Geschichte kein Happy End kennt. Zuerst kam die Hiobsbotschaft, das Asylgesuch sei abgelehnt. Letzten Monat schliesslich, vier Jahre nach der Ankunft in der Schweiz, wurde die Familie in ihr „Heimatland“ Tschetschenien ausgeschafft – ein Land, das den Kindern mittlerweile fremd ist und in dem immer noch Terror und Unterdrückung herrschen.

Dieser Ausgang trotz Kampagne in den Medien und Unterstützung der Bevölkerung der Gemeinde Kilchberg wirft Fragen auf. Warum hier Kinder aus einem intakten Umfeld herausgerissen und die ganze Familie unnötigem Leid ausgesetzt wird, lässt sich weder rational noch moralisch begründen. Auch auf rechtlicher Ebene spricht so einiges gegen eine Ausschaffung. Tatsächlich weisen Kritiker dieses Beschlusses immer wieder darauf hin, dass Mängel im Verfahren bestanden. So wurde beispielsweise weder die tatsächliche menschenrechtliche Situation genügend wahrgenommen, auch wurden die Bezugspersonen der Asylbehörde, welche persönlich in Kontakt zu der Familie standen, bei der Urteilsfindung nicht einbezogen.

Eine beispielhaft integrierte Familie, welche hier Fuss gefasst hatte, wurde auf Kosten der Steuerzahler ihrer Zukunft beraubt, indem man sie in ein Land zurückfliegt, von dessen Besuch das EDA in den Reisehinweisen abrät. An dieser Stelle in orwellscher Manier von einer einvernehmlichen Lösung zu sprechen, nach all den Schikanen, dem unfassbaren Druck, der auf diese Menschen einschliesslich der Kinder ausgeübt wurde, ist absolut unmenschlich und eines funktionierenden Rechtsstaates nicht würdig. Denn es lässt sich mit keinen rechtlichen Grundlagen erklären, wie es dazu kommen konnte, dass eine Familie, die gemäss eigenen Aussagen in ihrer Heimat verfolgt wurde, erneut dorthin geschickt wurde, wo ihr mit grosser Wahrscheinlichkeit neues Unheil droht. Die Behörden begründen ihren Entscheid damit, dass es nicht genügend Beweise für eine Verfolgung gäbe. Auch dies klingt wie der blanke Hohn. Wahrscheinlich bedeutet dies, dass demnächst ein jeder und eine jede sich vor seiner Flucht von seinen Folterknechten ein schriftliches Attest ausstellen lassen muss, welches bezeugt, dass er oder sie verfolgt wurde. Nur ist es äusserst fraglich, ob diese denn auch zu einer solchen Zusammenarbeit bereit wären. Die zuständigen Behörden scheinen sich aber auch hier keine Sorgen zu machen. Wenn es der Familie, doch so gut gelungen ist, sich in der Schweiz zu integrieren, werde ihr das sicherlich auch in Tschetschenien nicht schwerfallen!

Während ich mich ausführlicher mit diesem Fall beschäftigt habe, musste ich mir immer wieder bewusst werden, dass ich gerade keine Erzählung von Orwell oder Kafka lese, sondern mich mit real existierender Schweizer Realität auseinandersetze. Es ist eine Realität, die Sprachlosigkeit, Ohnmacht und Enttäuschung hervorruft, ob all dem Leid, dass hier in Kauf genommen wurde und welches eigentlich hätte verhindert werden können. Es ist Leid, dass unter Umständen nie mehr wiedergutgemacht werden kann. Denn womöglich ist es zu spät, das Geschehene lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Was die Familie in Tschetschenien erwartet, kann niemand voraussagen.

Dieser Fall hat auf eindrückliche Weise gezeigt, dass auch in einen vermeintlich gerechten Staat wie der Schweiz kein hundertprozentiger Schutz vor Menschenrechtsverletzungen besteht. Das Verfahren gegenüber der tschetschenischen Familie ist eines Rechtsstaates unwürdig. Denn ein solcher, sollte eigentlich Möglichkeiten zum Schutz vor behördlicher Willkür bieten und nicht diese erst durchsetzen. Es wird höchste Zeit, dass sich die Schweiz ihrer Ursprünge bewusst wird und die Behörden bei der Entscheidungsfindung auf den Wortlaut der Präambel der Bundesverfassung besinnen, welcher besagt: „gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen.“

 

Weiterführende Links:

 

Die Unterstützungskampagne „Hier zuhause“ verfügt über eine eigene Website. Neben einer ausführlichen Dokumentation des Schicksals der Familie M. und Hintergrundinformationen über Lage in Tschetschenien findet man hier auch Möglichkeiten zur Unterstützung, sowie Updates über die Situation der Familie und das Härtefallgesuch.  http://www.hierzuhause.ch/

Facebookseite „Hier zuhause“

 

Schattenkinder – Aufwachsen ohne Vater

Heute habe ich in der Zeitung darüber gelesen, dass es Projekte gibt, die die Familien von Gefängniseinsassen betreuen. Es erinnerte mich so ein bisschen an die Unterstützung innerhalb Dissidentenkreisen in der Tschechoslowakei, nur dass hier die Gefängnisverwaltung das Vorhaben unterstützt. Anhand der Geschichte einer Familie wird ein Einblick in die Tätigkeit der Stiftung Relais Enfants Parents Romands gegeben. Es ist die Geschichte eines dreijährigen Buben, seiner Mutter, einer Serbin, die seit ihrer Kindheit in der Schweiz lebt und die trotz anderweitigen Ratschlägen zu ihrem Mann hält, einem Tunesier, der wegen Drogendelikten zu vier Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Sie will ihn nicht im Stich lassen, sagt, er sei krank, drogensüchtig und nur deswegen habe er dies alles getan. Ich lese in diesem Artikel, wie „enfants de l’ombre“ wie dieser Junge, sowie deren Eltern unterstützt werden, wie dort gemeinsam organisatorische Fragen beantwortet werden, wie die Menschen auch moralischen Beistand erhalten. Es wird auch gezeigt, wie die Bindung zwischen dem Kind und dem inhaftierten Vater aufrechterhalten wird, was für alle Beteiligten etwas sehr Wichtiges ist. Ich erfahre, wie in diesem Fall dafür gesorgt wird, dass Papa im Leben des kleinen Jungen weiterhin seinen Platz hat – durch Anrufe, Besuche, ausnahmsweise erlaubte Fotos als Erinnerung an gemeinsame Stunden, die nun im Kinderzimmer hängen und dafür sorgen, dass das Bild des Vaters in der Erinnerung nicht verwischt. Für den Jungen ist die Welt im Moment in Ordnung, so wie sie ist. Schliesslich kennt er nichts anderes. Doch im Frühling werde sich dies ändern. Dann nämlich kommt Papa frei. Ich halte kurz inne, denke nach. Ja, das ist eine Herausforderung, wenn der Vater plötzlich wieder ins Leben tritt, teil es Alltags zuhause wird. Die Abläufe ändern sich, es wird alles anders. Doch dann lese ich den Satz zu Ende: „und wird nach Tunesien ausgeschafft.“ Unwiderruflich. Das Bundesgericht hat so entschieden. Das sind sie, diese Entscheide, die von anderen gemacht werden und das Leben total auf den Kopf stellen können, mit Auswirkungen, die keiner so recht einschätzen kann. Die erhoffte Wiedervereinigung der Familie jedenfalls rückt in weite Ferne. Doch gerade bei solch aussichtlos erscheinenden Konstellationen ist es wichtig, dass die Betroffenen professionelle Unterstützung erhalten und nicht alleine den Weg in die ungewisse Zukunft antreten müssen.

 

Januar 2016