Eine Ungerechtigkeit, die sprachlos macht

Wer sich mit der Menschenrechtsthematik auseinandersetzt, realisiert schnell, wie viele Menschen auch im 21. Jahrhundert noch Willkür ausgesetzt sind. Von Saudi Arabien über Eritrea bis nach Russland, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, erreichen uns immer und immer wieder Nachrichten von Menschenrechtsverletzungen. Es sind Schicksale, die nur diejenigen kaltlassen können, die ein Herz aus Stein haben. Auch diesmal ist es eine solche Geschichte, die mich dazu bewegt, diese Zeilen hier zu schreiben.

Es ist eine Geschichte, die das Potential hätte, aus einem Märchenbuch zu stammen. Es war einmal eine Familie, die in ihrem Heimatland Terror und Verfolgung erlebte. Deswegen schliesslich entschloss sie sich zu fliehen, um anderswo ein neues Leben zu beginnen, ein Leben ohne Angst und ohne Gewalt. Nach jahrelanger Odyssee schliesslich hat sie Zuflucht in der Schweiz gefunden. Das Ankommen im Alltag in diesem neuen Zuhause war sicherlich nicht einfach, und dennoch wurde die Familie Teil der Gemeinschaft. Die Kinder konnten zur Schule gehen und fanden gute Freunde. Doch eine wesentliche Sache unterscheidet diese Geschichte von einem Märchen. Es fehlt nämlich ein Abschluss, wie er bei Märchen übrig ist. Es gibt kein „und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage“ und auch kein „und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“. Dies liegt daran, dass diese Geschichte kein Happy End kennt. Zuerst kam die Hiobsbotschaft, das Asylgesuch sei abgelehnt. Letzten Monat schliesslich, vier Jahre nach der Ankunft in der Schweiz, wurde die Familie in ihr „Heimatland“ Tschetschenien ausgeschafft – ein Land, das den Kindern mittlerweile fremd ist und in dem immer noch Terror und Unterdrückung herrschen.

Dieser Ausgang trotz Kampagne in den Medien und Unterstützung der Bevölkerung der Gemeinde Kilchberg wirft Fragen auf. Warum hier Kinder aus einem intakten Umfeld herausgerissen und die ganze Familie unnötigem Leid ausgesetzt wird, lässt sich weder rational noch moralisch begründen. Auch auf rechtlicher Ebene spricht so einiges gegen eine Ausschaffung. Tatsächlich weisen Kritiker dieses Beschlusses immer wieder darauf hin, dass Mängel im Verfahren bestanden. So wurde beispielsweise weder die tatsächliche menschenrechtliche Situation genügend wahrgenommen, auch wurden die Bezugspersonen der Asylbehörde, welche persönlich in Kontakt zu der Familie standen, bei der Urteilsfindung nicht einbezogen.

Eine beispielhaft integrierte Familie, welche hier Fuss gefasst hatte, wurde auf Kosten der Steuerzahler ihrer Zukunft beraubt, indem man sie in ein Land zurückfliegt, von dessen Besuch das EDA in den Reisehinweisen abrät. An dieser Stelle in orwellscher Manier von einer einvernehmlichen Lösung zu sprechen, nach all den Schikanen, dem unfassbaren Druck, der auf diese Menschen einschliesslich der Kinder ausgeübt wurde, ist absolut unmenschlich und eines funktionierenden Rechtsstaates nicht würdig. Denn es lässt sich mit keinen rechtlichen Grundlagen erklären, wie es dazu kommen konnte, dass eine Familie, die gemäss eigenen Aussagen in ihrer Heimat verfolgt wurde, erneut dorthin geschickt wurde, wo ihr mit grosser Wahrscheinlichkeit neues Unheil droht. Die Behörden begründen ihren Entscheid damit, dass es nicht genügend Beweise für eine Verfolgung gäbe. Auch dies klingt wie der blanke Hohn. Wahrscheinlich bedeutet dies, dass demnächst ein jeder und eine jede sich vor seiner Flucht von seinen Folterknechten ein schriftliches Attest ausstellen lassen muss, welches bezeugt, dass er oder sie verfolgt wurde. Nur ist es äusserst fraglich, ob diese denn auch zu einer solchen Zusammenarbeit bereit wären. Die zuständigen Behörden scheinen sich aber auch hier keine Sorgen zu machen. Wenn es der Familie, doch so gut gelungen ist, sich in der Schweiz zu integrieren, werde ihr das sicherlich auch in Tschetschenien nicht schwerfallen!

Während ich mich ausführlicher mit diesem Fall beschäftigt habe, musste ich mir immer wieder bewusst werden, dass ich gerade keine Erzählung von Orwell oder Kafka lese, sondern mich mit real existierender Schweizer Realität auseinandersetze. Es ist eine Realität, die Sprachlosigkeit, Ohnmacht und Enttäuschung hervorruft, ob all dem Leid, dass hier in Kauf genommen wurde und welches eigentlich hätte verhindert werden können. Es ist Leid, dass unter Umständen nie mehr wiedergutgemacht werden kann. Denn womöglich ist es zu spät, das Geschehene lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Was die Familie in Tschetschenien erwartet, kann niemand voraussagen.

Dieser Fall hat auf eindrückliche Weise gezeigt, dass auch in einen vermeintlich gerechten Staat wie der Schweiz kein hundertprozentiger Schutz vor Menschenrechtsverletzungen besteht. Das Verfahren gegenüber der tschetschenischen Familie ist eines Rechtsstaates unwürdig. Denn ein solcher, sollte eigentlich Möglichkeiten zum Schutz vor behördlicher Willkür bieten und nicht diese erst durchsetzen. Es wird höchste Zeit, dass sich die Schweiz ihrer Ursprünge bewusst wird und die Behörden bei der Entscheidungsfindung auf den Wortlaut der Präambel der Bundesverfassung besinnen, welcher besagt: „gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen.“

 

Weiterführende Links:

 

Die Unterstützungskampagne „Hier zuhause“ verfügt über eine eigene Website. Neben einer ausführlichen Dokumentation des Schicksals der Familie M. und Hintergrundinformationen über Lage in Tschetschenien findet man hier auch Möglichkeiten zur Unterstützung, sowie Updates über die Situation der Familie und das Härtefallgesuch.  http://www.hierzuhause.ch/

Facebookseite „Hier zuhause“

 

Schattenkinder – Aufwachsen ohne Vater

Heute habe ich in der Zeitung darüber gelesen, dass es Projekte gibt, die die Familien von Gefängniseinsassen betreuen. Es erinnerte mich so ein bisschen an die Unterstützung innerhalb Dissidentenkreisen in der Tschechoslowakei, nur dass hier die Gefängnisverwaltung das Vorhaben unterstützt. Anhand der Geschichte einer Familie wird ein Einblick in die Tätigkeit der Stiftung Relais Enfants Parents Romands gegeben. Es ist die Geschichte eines dreijährigen Buben, seiner Mutter, einer Serbin, die seit ihrer Kindheit in der Schweiz lebt und die trotz anderweitigen Ratschlägen zu ihrem Mann hält, einem Tunesier, der wegen Drogendelikten zu vier Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Sie will ihn nicht im Stich lassen, sagt, er sei krank, drogensüchtig und nur deswegen habe er dies alles getan. Ich lese in diesem Artikel, wie „enfants de l’ombre“ wie dieser Junge, sowie deren Eltern unterstützt werden, wie dort gemeinsam organisatorische Fragen beantwortet werden, wie die Menschen auch moralischen Beistand erhalten. Es wird auch gezeigt, wie die Bindung zwischen dem Kind und dem inhaftierten Vater aufrechterhalten wird, was für alle Beteiligten etwas sehr Wichtiges ist. Ich erfahre, wie in diesem Fall dafür gesorgt wird, dass Papa im Leben des kleinen Jungen weiterhin seinen Platz hat – durch Anrufe, Besuche, ausnahmsweise erlaubte Fotos als Erinnerung an gemeinsame Stunden, die nun im Kinderzimmer hängen und dafür sorgen, dass das Bild des Vaters in der Erinnerung nicht verwischt. Für den Jungen ist die Welt im Moment in Ordnung, so wie sie ist. Schliesslich kennt er nichts anderes. Doch im Frühling werde sich dies ändern. Dann nämlich kommt Papa frei. Ich halte kurz inne, denke nach. Ja, das ist eine Herausforderung, wenn der Vater plötzlich wieder ins Leben tritt, teil es Alltags zuhause wird. Die Abläufe ändern sich, es wird alles anders. Doch dann lese ich den Satz zu Ende: „und wird nach Tunesien ausgeschafft.“ Unwiderruflich. Das Bundesgericht hat so entschieden. Das sind sie, diese Entscheide, die von anderen gemacht werden und das Leben total auf den Kopf stellen können, mit Auswirkungen, die keiner so recht einschätzen kann. Die erhoffte Wiedervereinigung der Familie jedenfalls rückt in weite Ferne. Doch gerade bei solch aussichtlos erscheinenden Konstellationen ist es wichtig, dass die Betroffenen professionelle Unterstützung erhalten und nicht alleine den Weg in die ungewisse Zukunft antreten müssen.

 

Januar 2016