Wie viel Ungerechtigkeit kann ein Mensch erfahren und dennoch menschlich bleiben? Diese Frage stellt sich zwangsläufig, wenn man «Der Junge, der vom Frieden träumte» von Michelle Cohen Corasanti liest. Dieser Junge heisst Ahmed. Im Buch begleiten wir ihn auf seinem Lebensweg vom Sohn eines Orangenzüchters aus Palästina, der viel zu früh erwachsen werden muss, zum Nobelpreisträger. Allerdings ist es nicht der Friedensnobelpreis, den er erhält, sondern derjenige für Physik. Denn Ahmed hat neben seiner friedensstiftenden Gabe noch ein weiteres Talent: eine mathematische Hochbegabung, die es ihm ermöglicht, Forschungen voranzutreiben, die die Wissenschaft revolutionieren.
Die Thematik des Buches ist keineswegs leicht verdaulich. Themen wie Krieg, Folter, Gewalt, Bedrohung, Zerstörung, Mord winden sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch. Wann immer es scheint, Ahmed und seine Liebsten haben endlich ihr Glück gefunden, wird es von aussen auf brutale Weise zerstört. Und dennoch überwindet Ahmed alle Krisen.
Aufgrund des nur äusserst schwer verdaulichen Inhalts war ich mehrmals kurz davor, das Buch wegzulegen, doch von dem Roman geht eine unglaubliche Kraft aus, die das unmöglich macht. Denn die Protagonisten dieser Geschichte haben mich sehr beeindruckt, allen voran natürlich Ahmed, der trotz allem, was ihm und seinen Liebsten widerfährt, seinen Weg geht und nie aufhört, an den Frieden und das Gute im Menschen zu glauben.
Doch es sind Menschen aus seinem Umfeld, die dies erst möglich machen. Als Ahmed nach der Verhaftung seines Vaters nicht mehr zur Schule gehen kann, da er die Familie ernähren muss, hat ihn sein früherer Lehrer zuhause unterrichtet und ihn dazu angeregt, den Wettbewerb für das Stipendium zum Mathematikstudium zu bestreiten.
Die zweifellos wichtigste Person für die Entwicklung von Ahmeds Persönlichkeit ist allerdings sein Vater. Wann immer Ahmed nicht mehr weiterweiss, erkundigt er sich bei seinem Vater und folgt dessen Ratschlägen. Baba, wie er ihn nennt, verkörpert die Werte, für die Ahmed sein Leben lang einstehen wird, wie kein anderer. Trotz des unaussprechlichen Unrechts, dass ihm, seiner Familie und seinem Volk widerfahren ist, strebt der Vater weiterhin nach Frieden, Versöhnung und Menschlichkeit, selbst dann als er als vermeintlicher Terrorist zu über zehn Jahren Haft verurteilt wird, wo er Gewalt und Folter erfährt. Anders als das mathematische Wunderkind Ahmed ist er mehr künstlerisch begabt. Er malt Portraits der Familie und spielt Oud. Dieses Instrument bringt er auch manchen Wärtern bei.
Ähnlich wie sein Vater wird auch Ahmed zeitlebens vermeintlich unüberwindbare Grenzen durchbrechen, einzig mit seiner Überzeugungskraft und der Kraft der menschlichen Begegnung auf Augenhöhe. Besonders deutlich wird dies, als er, als einer der wenigen Nicht-Juden, sein Studium an der Hebrew University beginnt. So wird man im Buch Zeuge, wie aus Feinden Freunde werden. Die Chance, die ihm sein Studium ermöglicht, führt dazu, dass Ahmed eine besondere Sicht auf die Dinge um ihn herum entwickelt, jenseits von Vorurteilen, ohne dabei das Unrecht aus den Augen zu verlieren, dass seiner Familie und dem palästinensischen Volk widerfahren ist und immer noch widerfährt.
Gleichzeitig führt dies dazu, dass er sich von manchen Familienmitgliedern entfernt, nie aber von seinem Vater, der ihn immer voll und ganz unterstützt. Seine Mutter allerdings, die keine Bildung erhielt, versteht zunächst nicht, warum er in die Stadt an die Universität gehen will. Sein Bruder Abbas wiederum empfindet Ahmeds enge Beziehungen zu Juden als Verrat. Seine Verbitterung verunmöglicht es ihm, in Ahmeds erster Frau Nora eine junge Frau zu sehen, die Arabisch lernt, Gedichte von palästinensischen Künstlern liest und in Krisengebiete reist, um den Menschen zu helfen. Alles was Abbas sieht, ist eine Jüdin, die einen Keil zwischen ihn und seinen Bruder treibt.
Es ist beeindruckend zu merken, wie Ahmed durch seine Haltung, die sich den Schablonen entzieht, immer wieder andere zum Nachdenken anregt und sie ebenfalls zum Überwinden ihrer Vorurteile bewegt. Doch die Begegnungen zwischen Ahmed und seinen Mitmenschen verändern auch ihn. Auch er wird immer wieder gezwungen, seine Haltung zu überdenken. So muss er seine zweite Ehefrau Yasmine, die er ursprünglich nur seiner Familie zuliebe geheiratet hat, erst lieben lernen, wozu ihm nicht zuletzt seine Freunde und das erste Kind verhelfen. Durch ihre Hilfe gewinnt Yasmine neues Selbstvertrauen und findet sich in der Fremde immer besser zurecht und Ahmed entdeckt neue liebenswerte Seiten an ihr.
Der zweite Moment im Buch, an dem Ahmed seine Perspektive revidieren muss, ist die Reise nach Gaza. Neben der schwierigen humanitären Lage vor Ort ist es insbesondere der tragische Selbstmord des Neffen Khaled, der eine starke Wirkkraft auf Ahmed hat. Sein Tod, für den sich Ahmed selbst die Schuld gibt, weil er ihm Hoffnung auf Bildung und einist nicht nur der Anfang einer langsamen Versöhnung mit Abbas, sondern lässt Ahmed realisieren, dass er mehr für sein Volk tun kann als nur für die eigene Familie. Daraus reift schliesslich sein Entschluss, sich für besseren Zugang zu Bildung für PalästinenserInnen einzusetzen, insbesondere für diejenigen in Gaza.
Bedeutend erscheint mir, dass das Buch selbst auch nie in Stereotypen oder Schwarz-weiss-Bildern stecken bleibt, sondern Individuen im Fokus bleiben. Die Palästinenser werden nicht idealisiert und die Israelis werden nicht dämonisiert. Dennoch wird Gewalt und Unrecht nicht geschönt, Dinge werden beim Namen genannt.
Zwar war die Familie schon zu Beginn von unfassbarem kriegs- und okkupationsbedingtem Leid betroffen, insbesondere durch den Tod der kleinen Schwester im Minenfeld und ersten Umsiedelungen, doch die Spirale der Gewalt und Repression durch das israelische System nimmt erst dann richtig Fahrt auf, als ein palästinensischer Dorfbewohner eines Nachts Ahmed gewaltsam dazu zwingt, Waffen für den Widerstand auf dem Grundstück der Familie zu vergraben. Erst dadurch wurde der Vater verhaftet, starb die zweite Schwester und wurde die Familie obdachlos.
Charakteristisch für das Buch ist zudem, dass abgesehen von ein paar Nebenfiguren und denjenigen, die das System repräsentieren und oberflächlich oder gar namenlos bleiben, nicht selten auch die Personen, die vom Hass geleitet sind, oder in Widerspruch zu Ahmeds Weltbild stehen, mit Empathie dargestellt werden. So versteht man im Buch immer wieder, dass hinter kontroversen Haltungen oftmals ein Trauma steht. Auch sind diese Menschen nicht inhärent böse oder schlecht. Ihre Haltung kann durch neue Begegnungen und Erfahrungen verändert werden, sie sind lernfähig.
Besonders deutlich wird das bei Menachem Sharon, einem von Ahmeds Professoren. Zu Beginn ist er ein Professor, der berüchtigt ist dafür, Araber zu hassen. Ahmed erkennt in ihm einen Soldaten, der an der brutalen Verhaftung seines Vaters beteiligt war. Sharon versucht zunächst, Ahmeds Studium zu sabotieren, da ihm dieser hochbegabte Araber unangenehm ist. Als sich Ahmed dank der Unterstützung seiner bereits durch seine Menschlichkeit gewonnenen jüdischen Studienfreunde erfolgreich gegen diese Intrige wehrt, besteht er darauf, Sharons Assistent zu werden. Das ist Babas Idee, der ihn dazu anregt, zu verstehen zu versuchen, was hinter seinem Hass steht. Sharon ist zunächst alles andere als begeistert von diesem Vorschlag und willigt nur ein, weil das die Bedingung ist, damit er seine Stelle behalten kann. In einem Gespräch erfährt Ahmed dann, dass Menachem Sharon als einziger seiner Familie den Holocaust überlebt hat, woraufhin Ahmed ihm zu erklären versucht, dass die Unterdrückung, Vertreibung und Ermordung von Palästinensern genauso ungerecht sind. Tatsächlich findet bei Sharon zunehmend ein Umdenken statt. Durch die gemeinsame Arbeit und die geteilte Leidenschaft für Mathematik bauen Menachem Sharon und Ahmed zunehmend Vorurteile ab. Dies geht so weit, dass er sich sogar im Streit von seiner ersten Frau trennt, gegenüber der er die Araber verteidigt, während sie an ihrem Hass festhält. Aus Professor Sharon wird Menachem, der zusammen mit seiner zweiten Frau Justice einer der engsten Freunde von Ahmed wird.
Zu Beginn sind auch manche jüdischen Mitstudierenden, insbesondere Motie, skeptisch gegenüber Ahmed eingestellt. Manche denken, sie müssen den arabischen Streber mit Gewalt zwingen, dass er ihnen bei den Aufgaben hilft. Aber Ahmeds Ausführungen haben ihr Interesse am Fach geweckt, so dass sie nun bald freiwillig und ohne Zwang mit ihm zusammen lernen und so viel besser dem Studium folgen können. Andere wie Zoher oder Rafi sehen in Ahmed von Anfang an einen Freund und einen Gleichberechtigten und bewundern sein Mathetalent. Zoher ist es, der vor seinem Tod im Krieg entscheidend dazu beiträgt, dass Ahmed weiterstudieren darf und Sharons Fehlverhalten der Universitätsleitung bekannt gemacht wird. Sein Vater wiederum sorgt nach Zohers Tod im Namen seines Sohnes dafür, dass die Familie ein neues Haus bekommt und nicht mehr im Zelt leben muss.
Bereits früher im Buch gibt es ein Beispiel für einen Menschen, der plötzlich durchdreht und sich hinter seiner Gewalt ein Trauma verbirgt. Nach der Verhaftung des Vaters brechen Abbas und Ahmed die Schule ab, um die Familie zu ernähren. Sie gehen auf eine Baustelle arbeiten, so wie zuvor der Vater, auch wenn sie für diese harte Arbeit eigentlich noch zu jung wären. Am Jahrestag des Todes seines Sohnes stürzt der jähzornige «Iraker», ein anderer Bauarbeiter, Ahmeds Bruder Abbas ohne Grund das Baugerüst herunter. Abbas überlebt, da er dank dem Baustellenleiter Yossi und den anderen Arbeitern zunächst die nötige medizinische Hilfe bekommt. Da sich aber die Familie die weiterführende ärztliche Behandlung nicht leisten kann und zu diesem Zeitpunkt gezwungen wird, in einem Zelt zu leben, wird Abbas für sein weiteres Leben behindert sein.
Diese Erfahrung ist von Bedeutung, wenn man Abbas’ Verbitterung verstehen will. Während Ahmed im Studium und danach bei der wissenschaftlichen Arbeit in Amerika durch den Austausch und Kontakt mit Juden Vorurteile abbaut, liebäugelt Abbas, der im Dorf zurückgeblieben ist und aufgrund seiner Verletzung nicht arbeiten kann, schon früh mit extremistischen Ideologien, insbesondere derjenigen eines Dr. Habash. Durch sein impulsives Handeln und sein Denken in festen Kategorien von schwarz und weiss, in denen es nur «entweder-oder» gibt, stösst er nicht nur seinen eigenen Bruder vor den Kopf, als er ihm aufgrund Ahmeds Hochzeit mit Nora, die er nicht einmal kennenlernen will, die Verwandtschaft kündigt und in den Untergrund flieht. Er ist damit indirekt für neues Leid für die Familie und für Noras gewaltsamen Tod verantwortlich. Im palästinensischen Widerstand hat Abbas seine Berufung gefunden. Im Geheimdienst findet er Arbeit, bei der er sich einbringen kann, auch wenn er behindert ist. In den Gesprächen zwischen Ahmed und seinem Bruder bei der Wiedervereinigung der beiden in Gaza wirkt Abbas nicht wie ein Extremist. Seine Argumente, so sehr sie von Pessimismus, Kollektivschuldzuschreibungen und dergleichen gespickt sind, wirken vor dem Hintergrund seiner Geschichte und den geschilderten Bedingungen in Gaza nachvollziehbar. Als sein Sohn Khaled aufgrund der aussichtslosen Lage in Gaza keinen anderen Ausweg sieht, als zum Selbstmordattentäter zu werden, beginnt auch Abbas langsam seine Haltung zu hinterfragen.
«Der Junge, der vom Frieden träumte» ist sehr anschaulich und empathisch geschrieben. Das Buch hat die Kraft, auch bei uns Lesenden etwas zu bewirken. Es informiert uns über die Situation in Palästina. Dabei prangert es die Gewalt an, insbesondere diejenige Israels gegenüber den Palästinensern. Dennoch lehnt es Vorverurteilungen und kollektive Schuldzuschreibungen ab. Es zeigt auf, was geschehen kann, wenn Menschen sich auf Augenhöhe begegnen und durch den Austausch beginnen, Vorurteile zu überwinden. Der Roman denunziert somit nicht nur bestehende Kriegsverbrechen. Er zeigt auch mögliche Lösungsansätze auf. So wird betont, dass Bildung und Empathie einen Ausweg aus der Gewaltspirale sein können. Insbesondere wird das Leben als Lernprozess dargestellt, in dem Haltungen nicht rigide und verfestigt bleiben, sondern durch neue Erfahrungen verändert werden können.
Letztlich überwiegt im Buch trotz aller Schicksalsschläge die Hoffnung. So träumt Menachem zusammen mit Ahmed am Ende der Nobelpreisrede von einem säkulären Staat für Juden und Palästinenser mit gleichen Rechten für alle.
Gewissermassen wird die nicht enden wollende und ungebrochene Hoffnung dieser Geschichte durch den im englischen Original titelgebenden Mandelbaum symbolisiert. Dieser Baum hat einen hohen Stellenwert für Ahmed, da er ihn durch sein ganzes Leben begleitet hat. Er ist Zeuge von schönen und traurigen Momenten und er hat mit Ahmed alle Herausforderungen überstanden und gedeiht weiterhin. Für ihn ist der Mandelbaum genauso Zufluchtsort seiner Kindheit als auch Ruhestätte seiner ersten Frau Nora.
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Zitate
«Was dir nicht lieb ist, das tu auch deinem Nächsten nicht! Das ist die Lehre der ganzen Thora. Alles andere ist nur Erläuterung – und nun geh hin und lerne sie.»
(einleitendes Zitat, S. 5)
Rabbi Hillel (30 v. Chr. – 10 n. Chr.), einer der bedeutendsten Rabbiner der talmudischen Ära
«Ihre Herzen unterscheiden sich genauso voneinander wie unsere. Es gibt gute und schlechte Männer, ängstliche und gierige, moralische und unmoralische, freundliche und böse – es sind Menschen wie wir. Wer weiss, wie sie sich verhalten würden, wenn sie nicht Soldaten wären? Das ist alles nur Politik.»
(Baba über die israelischen Soldaten, S.44f)
«Aber die Menschen dürfen einander nicht so behandeln, wie die uns behandeln»
(Ahmed, hier ca. 12 Jahre alt, S.45)
«Genau das ist es, was mich so traurig macht. […] In der gesamten Geschichte der Menschheit haben die Sieger die Besiegten so behandelt. Sie müssen sich einreden, dass wir minderwertig sind, um vor sich selbst zu rechtfertigen, dass sie mit uns so umgehen. Wenn sie doch nur begreifen würden, dass wir alle gleich sind.»
(Baba, S.45)
«Euer Plan, zu meinen Ehren einen Olivenbaum zu pflanzen, hat mir Tränen in die Augen getrieben. Es stört mich gar nicht, wenn ihr den Schössling beim Jewish National Fund kauft. Ich wünsche mir so, dass unser Volk und die jüdischen Israelis eines Tages gemeinsam dieses Land aufbauen, statt es zu zerstören.»
(Baba in einem Brief aus dem Gefängnis, S.135f)
«’[…] Die Menschen hassen aus Angst und aus Unwissenheit. Wenn sie diejenigen, die sie hassen, kennenlernen und sich auf gemeinsame Interessen konzentrieren, dann überwinden sie ihren Hass.’
(Gespräch zwischen Baba und Ahmed, S. 276)
‘Ich glaube, du bist zu optimistisch. Professor Sharon ist kein guter Mensch.’
‘Finde heraus, was hinter seinem Hass steckt, und versuche, ihn zu verstehen’, sagte Baba.»
«Meine Kindheit hat mich eine elementare Wahrheit gelehrt: Steter Tropfen höhlt den Stein. Ich habe gelernt, dass es nicht so sehr darauf ankommt, was einem widerfährt, sondern wie man auf das, was einem widerfährt, reagiert. Bildung war mein Weg hinaus ins Freie, durch Bildung war ich imstande, über meine Voraussetzungen hinauszuwachsen. Doch inzwischen ist mir klar geworden, dass ich dabei viele Menschen zurückgelassen habe. Heute weiss ich: solange ein einziger Mensch leidet, leiden wir alle. […] Niemand kann in Frieden leben, solange andere in Armut und Ungleichheit dahinsiechen. So wie ich früher davon geträumt habe, Atome zu manipulieren, so träume ich jetzt von einer Welt, in der wir Religion und Rasse und alle anderen Faktoren, die uns trennen, erfolgreich überwinden und gemeinsam ein höheres Ziel anstreben. Genau wie schon Martin Luther King vor mir wage ich es, von Frieden zu träumen.»
(Aus der Nobelpreisrede von Ahmed Hamid, S. 531-533)
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Der Junge, der vom Frieden träumte
Michelle Cohen Corasanti
Fischer TaschenBibliothek, 2. Auflage 2019
Englischer Originaltitel: The Almond Tree
Aus dem Englischen von Adelheid Zöfel