Schattenkinder – Aufwachsen ohne Vater

Heute habe ich in der Zeitung darüber gelesen, dass es Projekte gibt, die die Familien von Gefängniseinsassen betreuen. Es erinnerte mich so ein bisschen an die Unterstützung innerhalb Dissidentenkreisen in der Tschechoslowakei, nur dass hier die Gefängnisverwaltung das Vorhaben unterstützt. Anhand der Geschichte einer Familie wird ein Einblick in die Tätigkeit der Stiftung Relais Enfants Parents Romands gegeben. Es ist die Geschichte eines dreijährigen Buben, seiner Mutter, einer Serbin, die seit ihrer Kindheit in der Schweiz lebt und die trotz anderweitigen Ratschlägen zu ihrem Mann hält, einem Tunesier, der wegen Drogendelikten zu vier Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Sie will ihn nicht im Stich lassen, sagt, er sei krank, drogensüchtig und nur deswegen habe er dies alles getan. Ich lese in diesem Artikel, wie „enfants de l’ombre“ wie dieser Junge, sowie deren Eltern unterstützt werden, wie dort gemeinsam organisatorische Fragen beantwortet werden, wie die Menschen auch moralischen Beistand erhalten. Es wird auch gezeigt, wie die Bindung zwischen dem Kind und dem inhaftierten Vater aufrechterhalten wird, was für alle Beteiligten etwas sehr Wichtiges ist. Ich erfahre, wie in diesem Fall dafür gesorgt wird, dass Papa im Leben des kleinen Jungen weiterhin seinen Platz hat – durch Anrufe, Besuche, ausnahmsweise erlaubte Fotos als Erinnerung an gemeinsame Stunden, die nun im Kinderzimmer hängen und dafür sorgen, dass das Bild des Vaters in der Erinnerung nicht verwischt. Für den Jungen ist die Welt im Moment in Ordnung, so wie sie ist. Schliesslich kennt er nichts anderes. Doch im Frühling werde sich dies ändern. Dann nämlich kommt Papa frei. Ich halte kurz inne, denke nach. Ja, das ist eine Herausforderung, wenn der Vater plötzlich wieder ins Leben tritt, teil es Alltags zuhause wird. Die Abläufe ändern sich, es wird alles anders. Doch dann lese ich den Satz zu Ende: „und wird nach Tunesien ausgeschafft.“ Unwiderruflich. Das Bundesgericht hat so entschieden. Das sind sie, diese Entscheide, die von anderen gemacht werden und das Leben total auf den Kopf stellen können, mit Auswirkungen, die keiner so recht einschätzen kann. Die erhoffte Wiedervereinigung der Familie jedenfalls rückt in weite Ferne. Doch gerade bei solch aussichtlos erscheinenden Konstellationen ist es wichtig, dass die Betroffenen professionelle Unterstützung erhalten und nicht alleine den Weg in die ungewisse Zukunft antreten müssen.

 

Januar 2016